ich warte

Norbert Zoche
06.09.1958
2001

Papa,

Meine Einschulung,
stolz umklammerte ich meine Schultüte,
doch wo bist du?
Ich warte.

Ärger in der Schule,
meine Mitschüler hänseln mich,
doch wo bist du?
Ich warte.

Ich hab Geburtstag,
stehe am Fenster,
doch wo bist du?
Ich warte.

Jeden Tag denke ich an dich,
hoffend, du würdest endlich kommen,
doch wo bist du?
Ich warte.

Dann, es kam der Tag.
Ein Auto in unserer Einfahrt.
Ich wusste, du bist endlich da!
Stürmte hinein, vergaß alles um mich herum, bis ich dich sah.
Ich sprang dir in die Arme, Tränen liefen mir über die Wangen.
Ich drückte dich ganz fest, ließ dich den ganzen Tag nicht mehr los.
Du bist da!
Viele Fragen ich hatte und doch dir keine gestellt,
hielt dich einfach nur fest.
Ich war 10, hatte so lange auf diesen Moment gewartet.
Es wurde spät, du musstest los.
Weinend sah ich dir nach.
Ich warte.

Noch einmal kamst du.
Wieder hielten wir uns nur in den Armen.
Wieder stellte ich keine Fragen.
Dein Versprechen,
beim nächsten Mal erzählst du mir alles über dich.
Ich warte.

Monate vergingen, wartete unentwegt.
Ich stand am Fenster.
Mutter kam und sagte vorsichtig, du hättest einen Schlaganfall...vor drei Monaten.
Es folgten Tage, Wochen und noch immer begriff ich nicht, dass du mich nicht mehr hören kannst.
Papa! Wo bist du?
Ich warte.

Jetzt, wo ich dachte, ich müsse nicht mehr weinen,
jetzt, wo ich dachte, mein Leben wäre perfekt,
jetzt, wo ich dachte, ich bin nicht mehr allein,
jetzt, wo ich dachte, ich bin endlich glücklich,
jetzt, wo ich wusste, mein Wunsch wurde erfüllt,
schließt du für immer deine Augen.
Jetzt begriff ich.

Ein neues Gefühl durchtränkte mich.
Das Wissen, dich damals nicht gehabt zu haben,
ist unerträglich.
Doch das Wissen, dich verloren zu haben,
noch viel unerträglicher.

Du bist fort, kommst nicht mehr wieder.
Am Fenster stehe ich schon Jahre nicht mehr, doch warte ich.
Ich warte auf den Tag,
an dem auch ich die Augen schließe,
um dir zu folgen.

Ich liege in meinem Bett,
das Messer in der Hand.
Papa! Ich kann nicht mehr warten!
Papa! ich kann nicht mehr!

Ich setze an, doch dann, mir fehlte der Atem,
die Katze reißt dein Bild vom Tisch.
Ich hob es auf, du schaust mich an mit deinen traurigen Augen.
Jetzt weiß ich, du bist da!
Ich bin nicht allein.

Warte, sagt mir eine Stimme, Warte.
Papa! Ich warte.
Es wird kommen der Tag von ganz allein,
an dem auch ich die Augen schließe.
Dann, Papa, dann werden wir für immer zusammen sein.
Dann, Papa, dann lass ich dich nie mehr los.
Dann, Papa, dann bin auch ich wieder glücklich.
Keiner wird uns trennen!

Papa....ich liebe dich!

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